Mit seinen 88 Jahren hat der italienische Ökonom und Autor Gianfranco La Grassa als Kind noch den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Im Videointerview mit Byoblu spricht er über den Widerstand gegen den Faschismus in Italien und das Europa der Nachkriegszeit.
In Italien ist der 25. April ein Nationalfeiertag. Erinnert wird dabei an die Befreiung vom Faschismus an diesem Tag im Jahre 1945. Der Journalist Edoardo Gagliardi bittet La Grassa zu Beginn des Interviews um Erläuterungen zu dessen Äusserungen, dass Italien in Wahrheit nicht vom Faschismus befreit wurde und dass die Angloamerikaner keine Befreier, sondern die neuen Besatzer waren.
Der Ökonom ist der Meinung, dass Italien heute fast eine amerikanische Kolonie ist. Das Land sei nach dem Zweiten Weltkrieg einfach in eine andere Besatzung übergegangen. Die USA hätten dort Militärstützpunkte eingerichtet und würden seit 1945 befehlen. Sie hätten sogar ganz Europa übernommen – zuerst Westeuropa und nach dem Fall der Sowjetunion den Rest. La Grassa weiter:
«Wir [Italiener] sind wirklich immer noch Diener der Vereinigten Staaten, heute noch mehr als in der Ersten Republik [1946 bis 1994].»
Der Autor macht allerdings klar, dass Italien von der deutschen Besatzung befreit wurde. Er ist jedoch der Ansicht, dass man neben den schrecklichen Taten der Nazis diejenigen der USA nicht vergessen sollte, wie zum Beispiel die Dutzenden von Millionen «massakrierten» amerikanischen Ureinwohnern bei der Entstehung des Landes. Oder die Massaker, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben, wie der Putsch in Indonesien 1965 gegen Sukarno, im Zuge dessen je nach Schätzung zwischen 600’000 und eine Million Kommunisten getötet wurden, sowie 1973 der Staatsstreich in Chile und die darauffolgende Herrschaft von Pinochet.
La Grassa kritisiert, dass man diese Taten der Sieger relativiert und abmildert, während die Verlierer als Monster bezeichnet werden:
«Es tut mir leid, die Vereinigten Staaten waren genauso kriminell wie andere.»
Der Ökonom ist der Ansicht, dass die USA mit dem Ende der Sowjetunion in den italienischen Postkommunisten ein ideales «menschliches Material» gefunden haben. Das sei darauf zurückzuführen, dass die Partei seiner Meinung nach schon seit langem in den Händen einer Reihe von äusserst opportunistischen Persönlichkeiten war. Er habe sie schon seit langer Zeit nicht als Kommunisten betrachtet. Er selbst sei praktisch Kommunist geworden und habe sich 1953 der Partei genähert, aber schon 1963 habe er aus verschiedenen Gründen mit ihr gebrochen. Er sei dann zur ausserparlamentarischen Linken übergegangen. Vor allem nach Maos Tod habe er sich jedoch auch davon distanziert. Er hätte verstanden, dass diese Geschichte zu Ende ist. Er erläutert:
«Man muss den Mut haben, das zu sagen. Was mich stört, wenn man von Antifaschismus spricht – und auf der anderen Seite gibt es den Antikommunismus: (…) Faschismus und Kommunismus sind Phänomene, die schon sehr lange vorbei sind. (…) Die Kommunisten waren schon seit Anfang der 1970er Jahre keine Kommunisten mehr, als sie begannen, im Geheimen zu verhandeln, (…) um sich dem Westen anzunähern. Kurz gesagt, weil sie verstanden haben, was ich schon damals, 1969 und 1970, verstanden hatte, nämlich dass die UdSSR im Wesentlichen im Niedergang begriffen war und es daher notwendig war, sich ein wenig zu entfernen und zu versuchen, auch Beziehungen mit dem kapitalistischen Westen aufzubauen – unter grosser Geheimhaltung, weil sonst die gesamte Arbeiterbasis sie im Stich gelassen hätte. Doch sie begannen ihre Kontakte.»
La Grassa erinnert dann an den Historischen Kompromiss, im Rahmen dessen sich die Kommunistische Partei 1973 zur Zusammenarbeit mit den bedeutendsten im Parlament vertretenen demokratischen Parteien entschloss. Als dann 1989 das europäische sozialistische System zusammenbrach und schliesslich die UdSSR selbst sich 1991 auflöste, sei die Sache einfacher geworden. Die USA hätten dann «gute Diener» finden können, ohne die Sorge, in Italien Unruhe stiften (einzig Berlusconi hätte diese Politik gestört): Solange es den sozialistischen Pol gab, sei es besser gewesen, sich ruhig zu verhalten. Der Ökonom weiter:
«Mani Pulite [die juristischen Untersuchungen gegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegale Parteifinanzierung in den 1990er Jahren] war eine pro-amerikanische Operation, die von den Amerikanern durchgeführt wurde.»
Gemäss La Grassa wurde der italienische Widerstand gegen den Faschismus in Italien mit dem «roten» Terrorismus nicht verraten. Es sei wichtig zu verstehen, dass der Antifaschismus nicht geeint war, obwohl man ihn so behandle. Nicht zuletzt sei er keine Einheit gewesen, weil die Antifaschisten – wie die späteren Christdemokraten, die Liberalen oder auch die Monarchisten –, bis zum 8. September 1943 Faschisten gewesen seien. Dann habe es mit dem Waffenstillstand und dem Versuch, sogar auf die Seite der Sieger überzugehen, eine Wende gegeben.
An einem bestimmten Punkt sei sogar die Mehrheit derjenigen, die Antifaschisten wurden, faschistisch gewesen. Sie seien zu Antifaschisten geworden, weil sie erkannt hatten, dass sie den Krieg verloren hatten. Sie hätten den Wechsel auf völlig opportunistische Weise vollzogen. La Grassa erläutert:
«Diejenigen, die Antifaschisten blieben, waren die Kommunisten und ein Teil der Sozialisten. Das waren tatsächlich Antifaschisten, einige kamen sogar ins Gefängnis. (…) Ich bestehe darauf, dass man aufhört, den Antifaschismus so zu behandeln, als ob er ein einziger Block wäre, in dem alle (…) vereint für die Befreiung Italiens waren. Das sind Lügen von inkompetenten und wirklich beschämenden Historikern (…) und bestimmten Journalisten.»
La Grassa ist allerdings der Meinung, dass sich der Widerstand in Italien ohne die Unterstützung der Anglo-Amerikaner nicht hätte etablieren können. Als die Kommunisten den so genannten Widerstand begannen, hätten sie sehr genau gewusst, dass sie nicht viel erreichen konnten, im Gegensatz den Ländern Osteuropas der Fall war, denn dort habe es die sowjetische Armee und hier die alliierte Armee gegeben:
«Aber sie [die Kommunisten] erwarteten, dass sie einen sozialen Wandel erreichen würden. (...) Stattdessen scheiterte alles, vor allem nach dem Krieg. Im Januar 1947 ging [Ministerpräsident] De Gasperi nach New York, nahm Befehle von den Amerikanern entgegen, und als er zurückkam, warf er die Kommunisten im März 1947 aus der Regierung der nationalen Einheit. Von da an (…) blieben die Kommunisten eindeutig in der Opposition. Dann gab es noch den berühmten 18. April 1948, an dem die Christdemokraten (DC) die absolute Mehrheit erlangten. Zuerst hofften [die Kommunisten], dass sich etwas ändern würde, sonst hätten sie nicht so viel gekämpft und es wären nicht so viele gestorben.»
Auf die Frage, ob die Sowjetunion akzeptiert hatte, dass sich die Kommunisten in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg nicht durchsetzen sollten, antwortet La Grassa, dass sie dazu gezwungen wurden, nicht zuletzt aufgrund der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Er ist empört darüber, dass gerade in diesen Tagen in italienische Zeitungen diese Abwürfe, die Hunderttausende von Toten verursachten, fast gerechtfertigt werden, weil sie «uns» ein paar tausend Tote erspart haben. Eine Schande sei das, denn die Japaner hätten bereits kapituliert, als sie abgeworfen wurden, sicher aber in den wenigen Tagen zwischen Hiroshima und Nagasaki.
La Grassa zufolge wird es in Zukunft eine Möglichkeit geben, sich von dieser US-Besatzung zu lösen, wobei er noch nicht weiss, auf welche Weise. Im Moment sei jedoch davon noch nichts zu sehen, ausser hier und da eine gewisse Unzufriedenheit, zum Beispiel in Deutschland und in Frankreich. Doch er sieht einen deutlichen Niedergang der USA, vor allem in Asien und in Afrika. Und auch in Lateinamerika würden sie vorsichtig sein müssen. Am unterwürfigsten seien die Länder der Europäischen Union. Der Autor erklärt:
«Ich hatte den Niedergang der Amerikaner schon vor einigen Jahren gesehen, aber es scheint mir, dass er vielleicht weiter fortgeschritten ist, als ich dachte. Ich denke, sie werden in den Niedergang gehen. Und dann wächst die Multipolarität, das ist wichtig.»
Was den Ukraine-Krieg betrifft, stellt sich der Ökonom auf die Seite Russlands. Nicht, weil er Putin mag oder an die russische Gesellschaft glaubt; er hält zu Russland und China, weil er eine Multipolarität will. Er schliesst:
«Im Moment geht es mir einfach um das Wachstum der Multipolarität und damit gegen die amerikanische Tyrannei, die nach dem Zweiten Weltkrieg viel zu lange ausgeübt wurde.»
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